Alte Fotografien aus der Entstehungszeit der Rünther Zechenkolonien sind rar. Ortsgeschichtlich sind sie von besonderer Bedeutung, weil sie den Beginn der montanhistorischen Ära und den Wandel Rünthes vom Bauerndorf zur Bergbaugemeinde dokumentieren. Ein echter Schatz sind historische Glasdias, die sich im Archivbestand der Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger in Bochum, kurz „sv:dok“, befinden. Die alten Aufnahmen zeigen bisher nicht veröffentlichte Bilder aus der Zeit der Fertigstellung der Kolonie Rünthe-Süd und sind demnach über 100 Jahre alt.
Im Ursprung stammten die Aufnahmen von der Knappschaft, die sie schon vor Jahren dem Archiv überlassen hat. Doch warum hat die Krankenversicherung der Bergleute in den 1910er Jahren einen Fotografen nach Rünthe geschickt, um Bilder der damals neu errichteten Arbeitersiedlung anzufertigen? Vermutlich wollte die Krankenkasse die Wohnverhältnisse in der Arbeitersiedlung dokumentieren, insbesondere unter dem Aspekt der sanitären Hygiene. Der Cholera-Ausbruch in den Arbeitervierteln von Hamburg, der tausende Menschenleben gekostet hatte, lag noch nicht weit zurück und schärfte das Bewusstein für die Seuchengefahr. Cholera, Typhus und die Ruhr waren verheerende Infektionskrankheiten, für die es noch keinen Schutz mittels Impfung gab, Antibiotika für die Behandlung waren noch gar nicht vorhanden. Wohl aber hatte die Wissenschaft die Bedeutung der Hygiene für die Vermeidung von Infektionsausbrüchen erkannt. Dazu gehörte sauberes Trinkwasser und eine strikte Trennung vom Abwasser. Knappschaft und Zeche hatten also ein gemeinsames Interesse daran, Infektionsausbrüche in den Kolonien möglichst zu verhindern. Unter diesem Aspekt entsprach die Kolonie Rünthe-Süd bei ihrer Fertigstellung im Jahre 1911 den baulichen Standards der damaligen Zeit.
Zum Bestand des Archivs in Bochum gehören folgende historische Aufnahmen:
Die Aufnahme zeigt die Kreuzung Overberger Straße/Beverstraße und muss kurz nach der Fertigstellung der Häuser im Jahre 1911 entstanden sein. Links im Bild sind noch die Schienen einer Schmalspurbahn zu erkennen. Damit wurde das Material in das Baugebiet gebracht. Die Overberger Straße, die ursprünglich Kaiserstraße hieß, ist als befestigte Straße noch nicht zu erkennen. Der Straßenbau erfolgte bis 1914. Man kann erkennen, dass die Häuser bereits bewohnt sind. Dafür sprechen die Vorhänge an einigen Fenstern. Auf der rechten Seite sind Leitungsmasten für den Strom zu sehen. Rünthe wurde 1911 elektrifiziert. Das Foto wird demnach zwischen 1911 und 1914 entstanden sein.
Die Aufnahme der Westfalenstraße wurde vom Kreuzungsbereich Schlägelstraße gemacht. Man kann erkennen, wie die Straße mit Schotter befestigt wird,
eine Planierwalze verdichtet das Material. Im Bild ist ebenfalls die Schiene für die Schmalspurbahn zu erkennen. Fragen werfen die Rohre auf, die am rechten Bildrand zu erkennen sind, denn die
Kolonie Rünthe-Süd hatte usprünglich keine Kanalisation. Die wurde bekanntlich erst bei der großen Stadtteilsanierung in der Mitte der 1970er Jahre angelegt.
Die Aufnahme dürfte zusammen mit dem Bild von der Beverstraße gemacht worden sein, also in der Zeit zwischen 1911 und 1914.
Für die Aufnahme von der Taubenstraße muss sich der Fotograf an der Overberger Straße positioniert haben. Rechts vor den Häusern sind Leitungsmasten für den Strom deutlich zu erkennen, die Aufnahme stammt daher nicht aus der Zeit vor 1911. Die Overberger Straße ist noch nicht als befestigte Straße vorhanden, die Zufahrt von der Taubenstraße wird durch eine Absperrung verhindert. Auch diese Fotografie wird zwischen 1911 und 1914 entstanden sein. Dafür spricht außerdem die Kutsche, die am linken Straßenrand zu sehen ist. Vermutlich wurde mit ihr der Fotograf mitsamt Ausrüstung durch Rünthe gefahren, um seine Arbeit zu verrichten. Ein Bergmann hätte sich in der damaligen Zeit ein Gespann nicht leisten können. Wäre die Aufnahme in den 1920er Jahren entstanden, wäre der Fotograf vermutlich schon mit einem Automobil durch die Kolonie chauffiert worden. Neugierige Anwohner versammeln sich auf der Straße und verfolgen die Szene.
Die Aufnahme wurde vermutlich aus dem alten Kirchturm der katholischen Herz-Jesu-Kirche oder aus dem Dachgeschoss des ehemaligen Schwesternwohnheims gemacht. Links ist die Overberger Straße zu sehen, in der vorderen Reihe befinden sich de Zechenhäuser in der Taubenstraße. Die weiße Hauswand, die am linken Bildrand zu erkennen ist, gehört zum Gebäude der früheren Gaststätte Panköker, dahinter liegt die Gaststätte "Waldfrieden", die später Waldeck bzw. Löhken hieß. Die Aufnahme ist schwer zu datieren, weil sie nicht von guter Qualität ist. Erkennbar sind entlang der Overbergerstraße die Strommasten. Rünthe wurde 1911 elektrifiziert, die Straße wurde bis 1914 ausgebaut. Der Schriftzug auf der Karte verortet Rünthe noch im Kreis Hamm, der bekanntlich 1929 zum Kreis Unna umbenannt wurde. Das Bild muss also in der Zeit zwischen 1914 und 1929 gemacht worden sein.
Das Foto vom Kreuzungsbereich Schlägelstraße/Westfalenstraße ist besonders interessant, zeigt es doch die Haltestelle der Kleinbahn Unna-Werne, die ab 1911 für die Bevölkerung von Rünthe das bevorzugte Verkehrsmittel war. Die Straßenbahn kam aus Richtung der Gaststätte Schwager am Bergkamener Bahnhof, fuhr entlang der heutigen Halde in die Schlägelstraße ein, überquerte die Rünther Straße, fuhr dann die Schachtstraße hoch und bog links in den Hellweg. In Höhe der Gaststätte Kuhlmann befand sich eine weitere Haltestelle. Dann ging die Fahrt weiter über die Rensingbrücke, am Friedhof vorbei, um an der Jockenhöfer-Kreuzung rechts nach Werne abzubiegen. Endpunkt war der Marktplatz in Werne. Ab 1940 endete die Straßenbahn bei Kuhlmann, zehn Jahre später wurde der Betrieb ganz eingestellt. Die Fotografie kann gut zu Beginn der 1920er Jahre entstanden sein.
Die Aufnahme aus den 1920er Jahren zeigt den Hellweg mit der Haltestation der Kleinbahn Unna-Werne. In dieser Zeit entwickelte sich der Hellweg zur Einkaufsstraße im Ort. Zahlreiche Geschäfte sorgten für die Nahversorgung der Bevölkerung. In den Gaststätten Kuhlmann (damals noch Fischer) und Rensing spielte sich das gesellschaftliche Leben ab. Allerdings erfolgte der Durchgangsverkehr nach Hamm noch über den Straße, was wenige Jahrzehnte später für die Anwohner zu einer großen Belastung wurde. Deshalb wurde in den 1960er Jahren der Ostenhellweg angelegt.
Die Aufnahme wird aus luftiger Höhe vom alten Kirchturm der Herz-Jesu-Kirche oder vom Dachgeschoss der Grundschule (damals noch katholische Volksschule) gemacht worden sein. Der Blick geht auf die Schachtstraße und die Alte Kolonie. Am rechten Bildrand kann man die gleichförmigen Häuser der Schachtstraße erkennen ("D-Zug-Siedlung"), in der Bildmitte die Häuser in der Knappen- und Glückaufstraße. Auch die Fäustelstraße ist deutlich zu erkennen, aber noch nicht bebaut. Der qualmende Schlot am Horizont gehört zum Schacht Werne I/II. Die Aufnahme wird vermutlich mit dem Bild von der Taubenstraße entstanden sein, also zwischen 1914 und 1929.