Ein echter Schatz: Historische Aufnahmen der Knappschafft

Bildnachweis: sv:dok
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Sieben historische Aufnahmen aus der Entstehungszeit der Rünther Zechenkolonien lassen die Herzen aller Heimatfreunde höherschlagen. Seit Jahren schlummern die etwa 110 Jahre alten Glasnegative im Archiv der Sozialversicherungsträger (sv:dok) in Bochum. Ursprünglich wurden die Aufnahmen noch vor dem Ersten Weltkrieg vom Bochumer Knappschaftsverein in Auftrag gegeben und entstanden kurz nach dem Bau der Kolonie Rünthe-Süd, vermutlich um 1912 oder 1913.

 

Die Bilder stehen für ein besonderes Kapitel der Geschichte des Wohnungsbaus im Ruhrgebiet, das heute fast vergessen ist: Die Bergwerksgesellschaften der damaligen Zeit konnten für die Errichtung ihrer Arbeitersiedlungen zinsgünstige Darlehen vom Bochumer Knappschaftsverein erhalten, wenn sie sich beim Bau der Häuser an bestimmte Standards hinsichtlich der Ausstattung, Größe und sanitärer Anlagen hielten. Mit dem Förderprogramm wollte die Knappschaft einen wichtigen Beitrag zur Gesundheitsvorsorge der Bergmannsfamilien leisten, denn zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte man erkannt, dass die oftmals schlechten und beengten Wohnverhältnisse in den Arbeitersiedlungen den Nährboden für Seuchenausbrüche bildeten. Typhus, Ruhr und Diphterie waren um 1900 epidemische Plagen in den dicht besiedelten Arbeitervierteln des Ruhrgebiets. Zur Überwachung des Infektionsgeschehens wurde deshalb 1902 das Hygiene-Institut in Gelsenkirchen gegründet, ebenfalls mit Mitteln des Bochumer Knappschaftsvereins. Will man die Verhältnisse der damaligen Zeit begreifen, muss man sich vergegenwärtigen, dass das Ruhrgebiet gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Bevölkerungsexplosion erlebte. Der endlose Personalbedarf der Zechen lockte zigtausend Menschen an, die an Emscher und Ruhr ihr Glück suchten. Als Folge herrschte eine große Wohnungsnot, die die Kohle-Industrie mit dem Bau eigener Arbeitersiedlungen zu mildern suchte. Lag die Zahl der Zechenwohnungen im Ruhrgebiet um 1900 bei nur 26.000, konnte man bereits 14 Jahre später auf 94.000 Bergmannswohnungen verweisen. In diesem Zeitraum entstanden auch die ersten beiden Kolonien in Rünthe.

 

Der Bau der Kolonie Rünthe-Süd, damals „Neue Kolonie“ genannt, erfolgte ganz offensichtlich mit den Krediten des Bochumer Knappschaftsvereins. Deshalb wurde der Düsseldorfer Fotograf Ed. Liesegang nach Rünthe geschickt, um mit seinen Aufnahmen die Fertigstellung der Arbeitersiedlung für die Krankenkasse zu dokumentieren. Fünf Bilder sind diesem Entstehungszweck zuzuordnen. Zwei weitere Fotografien, die aus der Vogelperspektive vermutlich vom alten Kirchturm der Herz-Jesu-Kirche gemacht wurden, sind ein paar Jahre später entstanden. Bauherr war damals noch der Georgs-Marien-Verein als erster Betreiber der Zeche Werne, die dann in den 1920er Jahren in den Besitz des Klöckner-Konzerns überging.

BLick auf die Beverstraße, damals noch Waldstraße genannt. (Bildnachweis: sv:dok)
BLick auf die Beverstraße, damals noch Waldstraße genannt. (Bildnachweis: sv:dok)

Die Aufnahme zeigt die Kreuzung Overberger Straße/Beverstraße und muss kurz nach der Fertigstellung der Häuser entstanden sein. Links im Bild sind noch die Schienen einer Kleinbahn zu erkennen. Damit wurde das Material in das Baugebiet gebracht. Die Overberger Straße, die ursprünglich Kaiserstraße hieß, ist als befestigte Straße noch nicht zu erkennen. Der Straßenbau erfolgte bis 1914. Man kann erkennen, dass die Häuser bereits bewohnt sind. Dafür sprechen die Vorhänge an einigen Fenstern. Auf der rechten Seite sind Leitungsmasten für den Strom zu sehen. Rünthe wurde 1911 elektrifiziert.


Die Westfalenstraße mit Blick in Richtung Overberger Straße. (Bildnachweis: sv:dok)
Die Westfalenstraße mit Blick in Richtung Overberger Straße. (Bildnachweis: sv:dok)

Die Aufnahme der Westfalenstraße wurde vom Kreuzungsbereich Schlägelstraße gemacht. Man kann erkennen, wie die Straße mit Schotter befestigt wird, eine Planierwalze verdichtet das Material. Im Bild ist ebenfalls die Schiene für die Kleinbahn zu erkennen. Fragen werfen die Rohre auf, die am rechten Bildrand zu erkennen sind, denn die Kolonie Rünthe-Süd hatte usprünglich keine Kanalisation. Die wurde bekanntlich erst bei der großen Stadtteilsanierung in der Mitte der 1970er Jahre angelegt. Die Aufnahme dürfte zusammen mit dem Bild von der Beverstraße gemacht worden sein.


Die Taubenstraße hieß ursprünglich Barbarastraße. (Bildnachweis: sv:dok)
Die Taubenstraße hieß ursprünglich Barbarastraße. (Bildnachweis: sv:dok)

Für die Aufnahme von der Taubenstraße muss sich der Fotograf an der Overberger Straße positioniert haben. Rechts vor den Häusern sind Leitungsmasten für den Strom deutlich zu erkennen, die Aufnahme stammt daher nicht aus der Zeit vor 1911. Die Overberger Straße ist noch nicht als befestigte Straße vorhanden, die Zufahrt von der Taubenstraße wird durch eine Absperrung verhindert. Auch diese Fotografie wird zwischen 1912 und 1913 entstanden sein. Dafür spricht außerdem die Kutsche, die am linken Straßenrand zu sehen ist. Vermutlich wurde mit ihr der Fotograf mitsamt Ausrüstung durch Rünthe gefahren, um seine Arbeit zu verrichten. Ein Bergmann hätte sich in der damaligen Zeit ein Gespann nicht leisten können. Wäre die Aufnahme in den 1920er Jahren entstanden, wäre der Fotograf vermutlich schon mit einem Automobil durch die Kolonie chauffiert worden.


Blick aus der Vogelperspektive auf Overberger- und Taubenstraße. (Bildnachweis: sv:dok)
Blick aus der Vogelperspektive auf Overberger- und Taubenstraße. (Bildnachweis: sv:dok)

Die Aufnahme wurde vermutlich vom alten Kirchturm der katholischen Herz-Jesu-Kirche aus gemacht. Links ist die Overberger Straße zu sehen, in der vorderen Reihe befinden sich die Zechenhäuser in der Taubenstraße. Die weiße Hauswand, die am linken Bildrand zu erkennen ist, gehört zum Gebäude der früheren Gaststätte Panköker, dahinter liegt die Gaststätte "Waldfrieden", die später Waldeck bzw. Löhken hieß. Die Aufnahme ist schwer zu datieren, weil sie nicht von guter Qualität ist. Erkennbar sind entlang der Overbergerstraße die Strommasten. Rünthe wurde 1911 elektrifiziert, die Straße wurde bis 1914 ausgebaut. Der Schriftzug auf der Karte verortet Rünthe noch im Kreis Hamm, der bekanntlich 1929 zum Kreis Unna umbenannt wurde. Das Bild muss also in der Zeit zwischen 1914 und 1929 gemacht worden sein.


Die Schlägelstraße mit der Kleinbahn Unna-Werne. (Bildnachweis: sv:dok)
Die Schlägelstraße mit der Kleinbahn Unna-Werne. (Bildnachweis: sv:dok)

Das Foto vom Kreuzungsbereich Schlägelstraße/Westfalenstraße ist besonders interessant, zeigt es doch die Haltestelle der Kleinbahn Unna-Werne, die ab 1911 für die Bevölkerung von Rünthe das bevorzugte Verkehrsmittel war. Die Straßenbahn kam aus Richtung der Gaststätte Schwager am Bergkamener Bahnhof, fuhr entlang der heutigen Halde in die Schlägelstraße ein, überquerte die Rünther Straße, fuhr dann die Schachtstraße hoch und bog links in den Hellweg. In Höhe der Gaststätte Kuhlmann befand sich eine weitere Haltestelle. Dann ging die Fahrt weiter über die Rensingbrücke, am Friedhof vorbei, um an der Jockenhöfer-Kreuzung rechts nach Werne abzubiegen. Endpunkt war der Marktplatz in Werne. Ab 1940 endete die Straßenbahn bei Kuhlmann, zehn Jahre später wurde der Betrieb ganz eingestellt.


Aufnahme vom Hellweg mit der Kleinbahn Unna-Werne. (Bildnachweis: sv:dok)
Aufnahme vom Hellweg mit der Kleinbahn Unna-Werne. (Bildnachweis: sv:dok)

Die Aufnahme zeigt den Hellweg mit der Haltestation der Kleinbahn Unna-Werne. In dieser Zeit entwickelte sich der Hellweg zur Einkaufsstraße im Ort. Zahlreiche Geschäfte sorgten für die Nahversorgung der Bevölkerung. In den Gaststätten Kuhlmann (damals noch Fischer) und Rensing spielte sich das gesellschaftliche Leben ab. Allerdings erfolgte der Durchgangsverkehr nach Hamm noch über den Straße, was wenige Jahrzehnte später für die Anwohner zu einer großen Belastung wurde. Deshalb wurde in den 1960er Jahren der Ostenhellweg angelegt.


Blick auf Schachtstraße und Alte Kolonie. (Bildnachweis: sv:dok)
Blick auf Schachtstraße und Alte Kolonie. (Bildnachweis: sv:dok)

Die Aufnahme wird aus luftiger Höhe vom alten Kirchturm der Herz-Jesu-Kirche oder vom Dachgeschoss der damaligen kath. Volksschule gemacht worden sein. Der Blick geht auf die Schachtstraße und die Alte Kolonie. Am rechten Bildrand kann man die gleichförmigen Häuser der Schachtstraße erkennen ("D-Zug-Siedlung"), in der Bildmitte die Häuser in der Knappen- und Glückaufstraße. Auch die Fäustelstraße ist deutlich zu erkennen, aber noch nicht bebaut. Der qualmende Schlot am Horizont gehört zur Zeche Werne I/II.