Kindermorde im Nationalsozialismus

Stolpersteine erinnern an das Schicksal von Willi Domick und Christa Vertcheval. (Foto: Manuel Izdebski)
Stolpersteine erinnern an das Schicksal von Willi Domick und Christa Vertcheval. (Foto: Manuel Izdebski)

In Bergkamen sind sieben weitere Stolpersteine aus dem Erinnerungsprojekt des Künstlers Gunter Demnig verlegt worden. Zwei Gedenksteine erinnern an Kinder aus Rünthe, die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie wurden und in den Heilanstalten von Aplerbeck und Marsberg einen grausamen Tod fanden.

Verlegung vor dem Haus in der Schlägelstr. 36 (Foto: Manuel Izdebski)
Verlegung vor dem Haus in der Schlägelstr. 36 (Foto: Manuel Izdebski)

Christa Vertcheval wohnt in der Schlägelstr.36, wo sie am 22. August 1943 als Hausgeburt das Licht der Welt erblickt. Ihre Eltern sind Friedrich Vertcheval aus Werne und Anna Klinge, die gebürtig aus Altenbögge stammt. Die Geburt seiner Tochter kann Friedrich Vertcheval nicht miterleben, er befindet sich zu dieser Zeit als Soldat der Wehrmacht an der Front. Christa wird mit einer Mikrozephalie geboren, ihr Kopf ist abnorm klein, das Gehirn nicht richtig entwickelt. Schon die Familie ihrer Mutter gilt als erblich belastet. In alten Patientenakten wird Anna Klinge als „schwachsinnig“ bezeichnet, ebenso ihre Schwester Gisela und ihr Bruder Albert. Nach der Geburt von Tochter Christa wird gegen sie vor dem Erbgesundheitsgericht ein Antrag auf Unfruchtbarmachung angestrebt.

Am 22. Dezember 1943 wird Christa wegen ihrer Behinderung in die Heilanstalt Aplerbeck eingewiesen. In der dortigen „Kinderfachabteilung“ werden Kinder und Jugendliche mit körperlicher, geistiger und seelischer Beeinträchtigung gezielt getötet. Der Rassewahn der Nazis macht auch vor den Jüngsten nicht halt. Die Kinder sterben durch systematischen Nahrungsmittelentzug, im Krankheitsfall wird ihnen die medizinische Behandlung verweigert oder sie werden mittels Überdosierung von Medikamenten ermordet. In den Sterbeurkunden wird eine natürliche Todesursache vorgegeben, um Familien und Öffentlichkeit zu täuschen.

Am 16. Januar 1944 kann Anna Vertcheval ihre Tochter Christa noch einmal in der Heilanstalt Aplerbeck besuchen. Die Krankenakte enthält ein schriftliches Besuchsbegehren der Mutter. Am 2. Februar 1944 ist Christa tot. Offiziell wird eine Herzmuskelschwäche als Todesursache angegeben. Wenige Tage später wird das kleine Mädchen in Dortmund beigesetzt. Die Patientenakte von Christa enthält auch einen Hinweis auf Albert Klinge, er ist ihr Onkel und wohnt ebenfalls in Rünthe in der Westfalenstr.48. Albert Klinge befindet sich zu dieser Zeit in der Heilanstalt in Warstein. Wenige Monate später wird er in der Tötungsanstalt von Hadamar umgebracht.

Foto: Manuel Izdebski
Foto: Manuel Izdebski

Das gleiche Schicksal widerfährt dem damals 12-jährigen Willi Domick, der in der Barbarastr.4 (heute Taubenstr.) wohnt. Der Junge ist infolge einer frühen Poliomyelitis ("Kinderlähmung") körperlich und geistig behindert. Seine Mutter stirbt an einer Lungentuberkulose, als er fünf Jahre alt ist. Er wohnt bei seinem Vater Friedrich Krischak. Vater und Mutter sind unverheiratet.

Als Friedrich Krischak im März 1941 an der Front fällt, ist auch das Schicksal seines Sohnes besiegelt. Willi ist jetzt ein Waisenjunge und wird unter Amtsvormundschaft gestellt. Ab 9. April 1941 befindet er sich im St. Christophorus-Krankenhaus in der Nachbarstadt Werne. Von dort wird seine Verlegung in die Heilanstalt nach Marsberg im Sauerland veranlasst, wo er am 23. Juli 1941 aufgenommen wird. Die Aufnahmeunterlagen der „Kinderfachabteilung“ beschreiben ihn als 124 cm großen und 23 kg schweren Jungen mit mittelblonden Haaren. In den folgenden Jahren besucht Willi die Anstaltsschule und macht leichte Fortschritte in seiner geistigen Entwicklung, obwohl ihn die Ärzte als „geistig schwach“ bezeichnen. Am 15. Februar 1944 erkrankt Willi laut offizieller Aktenlage an einer Lungen- und Rippenfellentzündung, der er am 2. März 1944 erliegt. Fünf Tage später wird sein Leichnam auf dem Anstaltsfriedhof in Niedermarsberg beigesetzt. Angehörige können von den damaligen Behörden nicht gefunden werden.

Mit der Verlegung der Stolpersteine vor dem letzten Wohnsitz sollen gemäß der Intention des Künstlers die Namen der Kinder symbolisch nach Rünthe zurückkehren, wo sie zu Hause waren. Schülerinnen und Schüler aus den Religionskursen der zehnten Klassen der Freiherr-vom-Stein-Realschule gestalteten das Programm. Sie erinnerten an die Verfolgungsgeschichte der Kinder, ließen Luftballons in den Himmel steigen, zündeten Kerzen an und trugen Psalmen vor: „Zum Paradies mögen Engel dich geleiten, die heiligen Märtyrer dich begrüßen und dich führen in die heilige Stadt Jerusalem.“

Die Krankenmorde in der NS-Zeit sind ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte. Mehr als 200.000 Menschen mit körperlicher, geistiger oder seelischer Beeinträchtigung wurden im Nationalsozialismus Opfer der Euthanasie, darunter 5.000 Kinder. In Rünthe wird jetzt an zwei dieser Kinder erinnert.

Der Künster Gunter Demnig in Rünthe. (Foto: Manuel Izdebski)
Der Künster Gunter Demnig in Rünthe. (Foto: Manuel Izdebski)