Das Rätsel der alten Postkarte

Die Postkarte von 1915 zeigt fünf Männer aus Rünthe. Lässt sich ihre Identität nach mehr als 100 Jahren klären?
Die Postkarte von 1915 zeigt fünf Männer aus Rünthe. Lässt sich ihre Identität nach mehr als 100 Jahren klären?

 

Postkarten sind für viele Menschen begehrte Objekte ihrer Sammelleidenschaft. Eine über einhundert Jahre alte Karte aus Rünthe stand kürzlich bei einem bekannten Auktionsportal im Internet zum Verkauf. Die Ansicht zeigt eine Aufnahme mit fünf Männern und ist auf den 21. Februar 1915 datiert. Derartige Fotografien wurden damals gerne als Postkarte verschickt und galten als Besonderheit. Eine Kamera konnten sich einfache Leute nicht leisten, selbst die Dienste eines professionellen Fotostudios blieben ganz besonderen Anlässen vorbehalten, etwa zur Hochzeit.

Absender der Karte aus Rünthe war ein Mann mit dem Vornamen Otto. Seine Zeilen richtete er an seine Schwester Elise in Dresden. Wörtlich lautet der in altdeutscher Schrift verfasste Text: „Liebe Schwester, Schwägerin, Tante und Kinder. Ihr werdet gewiß schon lange wieder mal auf ein lebenszeichen von mir erwartet haben. Schicke Euch hiermit eine Karte mit Photografien es sind die Brüder und Schwager meiner Frau blos Fritz Dittmann fehlt noch ist vielleicht das letzte lebenszeichen vor mir bin jetzt zum 19. schon einberufen gewesen zu heeresdienst aber als überzählig entlassen. Es grüßt ganz herzlich dein Bruder Otto“.

Die Grüße aus Rünthe gingen an Elise Gärtner in Dresden.
Die Grüße aus Rünthe gingen an Elise Gärtner in Dresden.

Lässt sich nach mehr als einhundert Jahren herausfinden, wer der Absender der Karte und die Männer, die mit ihm von der Kamera standen, waren? Ein Blick in das Adressbuch der Gemeinde Rünthe von 1914 zeigt, dass im Ort 28 Männer mit dem Vornamen Otto lebten. Das sind zu viele, um durch ein Ausschlussverfahren das Rätsel um den Absender zu lösen. Bleibt die Empfängerin Elise Gärtner, Cottaerstraße 3 in Dresden. Im Einwohnerbuch der Stadt Dresden von 1915 findet sich unter der gleichen Adresse der Arbeiter Wilhelm Gärtner. Die Vermutung, dass es sich um den Ehemann von Elise gehandelt haben wird, bestätigt sich durch das alte Standesamtsregister der Stadt, wo sich die Heiratsurkunde des Ehepaares findet. Durch das Dokument ist auch der Mädchenname von Elise ersichtlich, die ursprünglich Berghoff hieß. Der Absender der Karte muss demnach Otto Berghoff gewesen sein. Im Adressbuch von Rünthe findet er sich tatsächlich im Haus mit der Nummer 215, heute Westfalenstraße. Doch wer waren die Brüder seiner Frau, die er im Text erwähnt?

Bei der Beantwortung dieser Frage hilft das Melderegister der Altgemeinde Rünthe. Es verrät, dass Otto Berghoff mit Anna Blaha verheiratet war. Drei Männer auf der Ansichtskarte müssen also ihre Brüder sein. Tatsächlich sind im Rünther Adressbuch Philipp, Josef und Karl Blaha im Haus mit der Nummer 221 zu finden. Beide Familien gehörten zu den ersten Bewohnern der Kolonie Rünthe-Süd und stammten ursprünglich aus dem Mansfelder Land in der damaligen Provinz Sachsen. Auch die Identität des fünften Mannes, von Otto Berghoff auf der Karte als Schwager seiner Frau bezeichnet, lässt sich klären. Anna, Josef, Karl und Philipp Blaha hatten noch zwei Schwestern mit dem Namen Barbara und Marie. Barbara war mit Otto Artmann verheiratet, der noch jung durch ein Unglück unter Tage im Schacht III starb. Marie wiederum war mit Otto Hahn (sen.) verheiratet. Vermutlich ist er auf der Karte ganz rechts zu sehen.

Der Grund, warum sich die Söhne und Schwiegersöhne der Familie Blaha gemeinsam ablichten ließen, ist wohl im Ersten Weltkrieg zu finden. Otto Berghoff schreibt von seiner Einberufung, die er bereits erhalten habe. Er ist der Mann in Uniform. Die anderen Beteiligten mussten jederzeit mit ihrer Einberufung rechnen. Ob man den Einsatz an der Front überleben würde, war für alle ungewiss. Die Fotografie entstand im Bewusstsein, dass es sich um die letzte gemeinsame Aufnahme handeln könnte. Wohl auch deshalb wählten die Bergleute ihre Sonntagskleidung für den besonderen Moment. Auf den ersten Blick wirkt das Bild so, als ob es in einem Fotostudio gemacht wurde. Doch bei genauer Betrachtung des Fußbodens erkennt man deutlich, dass die Aufnahme in einem Zelt entstanden sein muss. Vielleicht bot ein reisender Fotograf seine Dienste in der Zechenkolonie an.

Die fünf Männer auf der alten Ansichtskarte haben den Ersten Weltkrieg überlebt. Keiner von ihnen ist an der Front gefallen. Heute sind die Familiennamen Artmann und Berghoff im Ort nicht mehr zu finden, ihre Spur verliert sich in den 1950er und 1960er Jahren. Familie Blaha ist immer noch präsent und gehört längst zum Rünther Urgestein. Die historische Postkarte erinnert an die Zuwanderungsgeschichte vieler sächsischer Familien aus der Gegend um Hettstedt, Eisleben, Burgörner oder Sangershausen, die hauptsächlich in den Jahren von 1910 bis 1912 wegen des Bergbaus nach Rünthe kamen und hier in den Kolonien der Zeche Werne eine neue Heimat fanden.