Der Rünther Freidenkerverein

Luftbild des Rünther Friedhofs aus dem Jahre 1926: Protestanten und Katholiken waren strikt getrennt. (Bildnachweis: RVR, dl-de/by-2-0)
Luftbild des Rünther Friedhofs aus dem Jahre 1926: Protestanten und Katholiken waren strikt getrennt. (Bildnachweis: RVR, dl-de/by-2-0)

Das Urnengräberfeld auf dem Rünther Friedhof hat eine eigene Geschichte, die eng mit der Freidenker-Bewegung verbunden ist. Der Friedhofsbereich für die Feuerbestattungen wurde erst Anfang der 1950er Jahre angelegt. Üblich waren bis dahin Erdbestattungen, die streng nach Konfessionszugehörigkeit vorgenommen wurden: Auf der linken Seite des Friedhofs die Katholiken, rechts die Protestanten.

Mit dem Ende der Nazi-Diktatur blühte in der jungen Bundesrepublik die Freidenker-Bewegung wieder auf. Auch in Rünthe wurde eine Ortsgruppe des Bundes der Freidenker und Freireligiösen (BdFuF) gegründet, im Volksmund einfach "Freidenkerverein" genannt. Tatsächlich war die Bewegung der Freidenker schon im Kaiserreich aus dem Bürgertum heraus entstanden, fand dann aber in den 1920er Jahren einen gewaltigen Zuspruch in der kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die per se ein kritisches Verhältnis zu den Kirchen pflegte. Es entsprach dem Geist der Zeit, das Alte hinter sich zu lassen und in eine neue Zeit aufzubrechen. Deutschland erlebte seine erste Kirchenaustrittswelle, die die Säkularisierung untermauerte. Zu lange hatten die Kirchen die Nähe zu den Mächtigen gesucht und wurden nun als Teil des überwundenen Herrschaftssystems betrachtet. Freidenker und Freireligiöse waren auf der Höhe der Zeit und entsprachen den Vorstellungen vom Aufbruch in die Moderne. Mit der Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten fand die Bewegung ein abruptes Ende, doch in der Nachkriegszeit bildeten sich überall in Deutschland neue Gruppen. Ein Schwerpunkt war dabei das Ruhrgebiet, das mit seinen Zechenkolonien von der Arbeiterschaft geprägt war.

Ein typisches Urnengrab aus der Zeit der Freidenker-Bewegung in Rünthe. (Foto: Manuel Izdebski)
Ein typisches Urnengrab aus der Zeit der Freidenker-Bewegung in Rünthe. (Foto: Manuel Izdebski)

In dieser Zeit fand in Rünthe die Erweiterung des Friedhofs um das Urnengräberfeld statt, das die Freidenker für sich beanspruchten. Im Verein engagierten sich alte Kommunisten und Sozialdemokraten, die zur kommunalpolitischen Prominenz der Bergbaugemeinde zählten. Im Ort etablierte sich schnell der Begriff von den „Freidenker-Gräbern“, wenn über das neue Friedhofsareal gesprochen wurde. Der Rünther Verein erfüllte zugleich die Funktion einer Sterbegeldkasse für Feuerbestattungen. Viele Jahre sammelte Friedrich Wilhelm Schoppe als Kassierer die monatlichen Beiträge der Mitglieder ein. Beerdigungen waren schon damals eine kostspielige Angelegenheit, die das Budget einer Arbeiterfamilie enorm belasten konnten, während Urnenbeisetzungen weniger finanzielle Mittel erforderten und zugleich der links-orientierten Weltanschauung entsprachen. Gab es in der Kolonie einen Sterbefall, wurde häufig in der Nachbarschaft Geld gesammelt, um die betroffene Familie zu unterstützen, in späteren Jahren wurde ein Geldschein in die Beileidskarte gesteckt.

Obelisk des Freidenkervereins. (Foto: Manuel Izdebski)
Obelisk des Freidenkervereins. (Foto: Manuel Izdebski)

Ein steinernes Zeugnis der Freidenker-Bewegung in Rünthe ist der alte Obelisk am Eingang zum Urnengrabfeld, den Friedhofsbesucher durchaus wahrnehmen, dessen Bedeutung vielen aber nicht bekannt ist. Er wurde vom Rünther Freidenkerverein gestiftet und ist den verstorbenen Vereinsmitgliedern gewidmet. Altbürgermeister Wolfgang Kerak kann sich an das Ereignis erinnern: „Ich hatte damals gerade meine Ausbildung zum Steinmetz begonnen, als wir den Obelsiken für die Freidenker aufgestellt haben. Im Verein waren bekannte Leute wie Ernst Raupach sen., August Kühler, Arthur Horlbogen oder Paul Prinzler aktiv.“ Hannelore Schütrumpf von der alten Friedhofsgärtnerei hatte regelmäßig mit der Organisation zu tun. “Wenn ein Mitglied verstorben war, dann wurde bei uns ein Blumenbouquet bestellt. Ich kann mich so gut daran entsinnen, weil die Schleife immer rot und mit silberner Schrift bedruckt sein musste“, erzählt sie. „Wenn ich mich richtig erinnere, dann war Wilhelm Freienstein aus Rünthe-West der Vorsitzende des Vereins. Jedenfalls hat er immer bei mir die Bestellungen aufgegeben.“

Erkennbar waren die Freidenker auch durch ihre Traueranzeigen in der Tageszeitung, die statt mit einem Kreuz mit einer mehrflammigen Feuerschale gestaltet waren. Wann sich der Verein in Rünthe aufgelöst hat, ist nicht mehr bekannt, vermutlich in den 1970er Jahren. Inzwischen hat sich die Bestattungskultur in Deutschland grundlegend gewandelt, Urnenbeisetzungen sind keine Besonderheit mehr. Die Freidenker-Bewegung ist heute für die Geschichtswissenschaft ein wichtiger Teil der Arbeiterkultur im Ruhrgebiet. Die alten Urnengräber und der Obelisk auf dem Rünther Friedhof stehen für diese längst vergangene, aber für die Ortsgeschichte bedeutsame Epoche.