Der Kohlenpott als Schmelztiegel der Kulturen ist eine Erzählung, die mit der Entstehung der größten Industrieregion Deutschlands verbunden ist. Was sich im Ruhrgebiet im Großen vollzog, sollte wegen der Nordwanderung des Bergbaus zeitversetzt etwas später im kleinen Rünthe eintreten.
Nach Gründung der Zeche Werne im Jahre 1899 wandelte sich die Bauernschaft zur modernen Bergbaugemeinde und zog viele Arbeitsmigranten ganz unterschiedlicher Landsmannschaften an. Dazu gehörten auch Schlesier, die vornehmlich aus dem damaligen Landkreis Waldenburg in Niederschlesien kamen und in den Zechenkolonien von Rünthe eine starke Bevölkerungsgruppe bildeten. Ihre Migration erfolgte gegen Ende der ersten großen Einwanderungswelle ins Ruhrgebiet, die von 1880 bis etwa 1910 andauerte. Zumeist ging es darum, den schlechten Verhältnissen in der Heimat zu entkommen, wo man als Landarbeiter oder Tagelöhner ein karges Leben führte. Die Provinz Schlesien galt als Armenhaus Preußens. Selbst in den Bergbaugebieten Oberschlesiens verdienten Bergmänner nur die Hälfte des Lohns, den die Zechen im Ruhrgebiet ihren Arbeitern zahlten. Eine Abwanderung erschien deshalb attraktiv und versprach die Aussicht auf eine bessere Zukunft. Viele im Ort bekannte Familien haben dort ihre Wurzeln: Achtzehn, Beer, Gruner, Hahn, Kiesel, Kreisel, Kunert, Kühler, Lowak, Wenzel, Wunsch, Ziedeck und viele andere. Die Zuwanderer galten als besonders heimatverbunden und sollten das für Jahrzehnte bleiben. In vielen Orten des Ruhrgebiets gründeten sie Schlesiervereine, um Kultur und Brauchtum zu pflegen. Bis heute ein typischer Migrationsmechanismus, um sich in der Fremde nicht allein zu fühlen und seine kulturelle Identität zu wahren. In Rünthe wurde der Schlesierverein am 26. Januar 1926 aus der Taufe gehoben. Eine weitere Zuwanderungswelle erfolgte 1945 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Diesmal kamen die Schlesier nicht als Arbeitsmigranten, sondern als Vertriebene und Kriegsflüchtlinge. Zuflucht wurde häufig bei der Verwandtschaft gesucht, die schon seit Jahren im Ruhrgebiet lebte.
Überliefert ist die Geschichte von August Kiesel, der als Maurer beim Bau der Zechenhäuser tätig war. Nach der Fertigstellung der Kolonie Rünthe-Süd kehrte er zunächst nach Dittersbach in den Kreis Waldenburg zurück, heiratete seine Frau Elfriede und kam wieder nach Rünthe, um als Bergmann auf der Zeche zu arbeiten. Hier wurden die Töchter Erna und Hildegard geboren. Doch die Verheißung vom kleinen Glück sollte sich für die Familie nicht erfüllen. August Kiesel starb 1927 bei einem Unfall im Schacht III. Er hinterließ seine junge Ehefrau mit den beiden Töchtern, die unter ihren späteren Ehenamen Krahwinkel und Jakobs in der Kolonie Rünthe-Süd wohnten und allseits bekannt waren. Der über einhundert Jahre alte Brautkranz von Elfriede Kiesel wird bis heute von der Familie wie ein Schatz gehütet. Damals war es Sitte, diesen Brautschmuck hinter Glas zu rahmen und als Hochzeitsandenken aufzubewahren.
Helene Achtzehn, geboren 1906 in Altwasser, ist eine weitere Schlesierin, an die sich viele entsinnen. Sie hob die Altenarbeit der Arbeiterwohlfahrt in Rünthe aus der Taufe und saß nach dem Zweiten Weltkrieg im Gemeinderat. Für viele Einwohner war sie die "Grande Dame" der Rünther Kommunalpolitik. In den Zechenkolonien kannte man sie auch als resolute Zeitungsbotin, die zuverlässig bei Wind und Wetter den Westfälischen Anzeiger an die Leserschaft auslieferte, früher noch "Anzeiger und Kurier". Dass mit August Kühler ein Landsmann letzter Bürgermeister der Altgemeinde wurde, passt ins Bild. Das Amt übte er von 1963 bis zur Geburtsstunde der Stadt Bergkamen 1966 aus. Kühler wurde 1901 in Zedlitzheide im Kreis Waldenburg geboren. In den 1920er Jahren engagierte sich der Bergmann in Rünthe bei den Kommunisten. Verfolgung und Haft im Dritten Reich überstand er nur mit Glück. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Kühler zunächst Mitglied der KPD, wechselte dann aber zu den Sozialdemokraten und wurde ein geachteter Bürgermeister. An der Gründung der Stadt Bergkamen vor über 50 Jahren hat er seinen Anteil.
Bekannt waren die Schlesier auch für ihre deftige Küche, die bis in die 1980er Jahre hinein den Speiseplan vieler Haushalte in Rünthe bestimmte. Die Kinder von damals erinnern sich noch heute an Panschkraut, Grützwurst und Kuttelsuppe. Großmütter wurden für ihre schlesischen Klöße geliebt. Die Nachfahren haben mit der Kultur ihrer Ahnen gebrochen. Im Laufe von vier Generationen hat das schlesische Leben in den früheren Zechenkolonien nur noch Erinnerungswert. Doch zum Gedeih der Altgemeinde Rünthe haben die Zuwanderer aus Niederschlesien ihren Beitrag geleistet.