Am 2. März 1919 konnten in der Provinz Westfalen erstmals alle Frauen und Männer in freier, geheimer und gleicher Wahl die Gemeindevertretungen bestimmen. Damit hielt die Demokratie auch in der Altgemeinde Rünthe ihren Einzug. Die Sozialdemokratin Helene Böhm wurde als erste Frau in das Gemeindeparlament gewählt. Nur einige Wochen zuvor war in Deutschland das Frauenwahlrecht eingeführt worden. Auch für den Bergmann Wilhelm Schwan begann eine beachtenswerte politische Karriere.
Mit der Ausrufung der Republik und der Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts brach in der Bergbaugemeinde eine neue Zeit an. Nun bestimmten nicht mehr die Privilegierten das politische Geschehen, sondern die Mehrheit der Bevölkerung. In den Zechenkolonien von Rünthe war das die Arbeiterschaft. So kann das Ergebnis der ersten freien Kommunalwahl nicht verwundern: In der zwölfköpfigen Gemeindevertretung gingen acht Sitze an die gemeinsame Liste von SPD und USPD, drei Mandate an eine bürgerlich-konservative Vereinigung und ein Sitz an die Polenpartei. Für die Sozialdemokraten zogen die Hausfrau Helene Böhm und die Bergleute Albert Albrecht, Max Dittrich, Fritz Franke, Richard Kirmse, Josef Rother, Wilhelm Schwan und Theo Weigel ins Gemeindeparlament ein, für die Konservativen der Fahrsteiger Josef v.d. Gathen, der Landwirt Leopold Lippmann und der Kaufmann Fritz Lohrmann. Die Polenpartei vertrat der Bergmann Bartholomäus Wrobel. Das Amt des Gemeindevorstehers übernahm im Juni 1919 der Gastwirt Hermann Schlotjunker.
Eine echte Sensation muss die Wahl von Helene Böhm gewesen sein, die als Spitzenkandidatin der SPD die gemeinsame Liste mit der USPD anführte. Mit ihr wurde erstmals eine Frau in die Gemeindevertretung gewählt. In vielen Nachbargemeinden gelang das erst bei der nächsten Kommunalwahl im Jahre 1924. Böhm war mit ihrer Familie von Hamburg nach Rünthe gekommen und wohnte in der Kolonie Rünthe-Süd. Heute ist sie im Ortsteil vergessen, auch sind keine alten Fotografien von ihr erhalten. Sie gehörte der Gemeindevertretung für nur eine Legislaturperiode an. Möglicherweise erklärt das die mangelnde Erinnerung. Zur „Grande Dame“ der Rünther SPD sollte drei Jahrzehnte später die Kommunalpolitikerin Helene Achtzehn aufsteigen, derweil die erste Frau im Gemeinderat in Vergessenheit geriet. Keine Straße in Rünthe wurde je nach Helene Böhm benannt, obwohl ihr Name auf lokaler Ebene für die Einführung des Frauenwahlrechts vor einhundert Jahren steht und in der Ortsgeschichte einen besonderen Platz hat.
Mit dem Einzug in die Rünther Gemeindevertretung begann für den Bergmann Wilhelm Schwan eine bemerkenswerte politische Karriere, die von Höhen und Tiefen, von Irrungen und Wirrungen geprägt war. Er war zunächst Mitglied der SPD, trat dann zur USPD und schließlich zur KPD über und betätigte sich als Rädelsführer beim Ruhraufstand. Von einem Kriegsgericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt, flüchtete er in den westlichen Teil des Ruhrgebiets und erlebte einen steilen Aufstieg bei den Kommunisten. Für einen Düsseldorfer Wahlkreis zog er 1924 in den Reichstag ein, dem er bis 1928 angehörte. Innerhalb der KPD stieg Schwan bis ins Zentralkomitee auf und wurde auf Wunsch von Ernst Thälmann Mitglied im Präsidium des Politbüros. Interne Machtkämpfe der unterschiedlichen Parteiflügel beendeten seine Karriere ebenso rasch, wie sie begonnen hatte. Von den Nationalsozialisten im Dritten Reich verfolgt, überlebte Wilhelm Schwan das Konzentrationslager und wurde nach dem Krieg wieder bei den Kommunisten aktiv. Ab Juni 1945 leitete er das Wohnungsamt in Berlin-Lichtenberg, doch bereits vier Jahre später überwarf er sich mit der SED. Er starb 1960 in Ost-Berlin.
Für die kleine Bergbaugemeinde blieben die Jahre nach der ersten freien Kommunalwahl schwierig. Wirtschaftliche Not und politische Unruhen bestimmten das alltägliche Leben. Im April 1920 schlug die Reichswehr den Ruhraufstand brutal nieder und besetzte Rünthe. Auf der Zeche Werne verloren durch die schlechte Wirtschaftslage zahlreiche Kumpel Arbeit und Brot. In vielen Bergmannsfamilien herrschte bittere Armut. In dieser Zeit entwickelte sich die Altgemeinde zu einer Hochburg der Sozialdemokraten und Kommunisten. Der Mythos vom „Roten Rünthe“ war geboren.